Das Wortpaar Digitalisierung und Mittelstand klingt in unseren Ohren erst einmal nicht vielversprechend. Es erinnert eher an die ständigen Mahnungen, wie sehr der deutsche Mittelstand doch in der Digitalisierung hinterherhinkt und abgehängt wird, vor allem von den Amerikanern. Automatisch denkt man bei Digitalisierung sowieso zuerst an das Silicon Valley, den Vorreiter der digitalen Disruption, an zweiter Stelle vielleicht noch an die Großkonzerne, die mit strategischen Abteilungen versuchen Schritt zu halten. Wenn überhaupt folgt dann am Ende der Mittelstand, meist mit einem großen Fragezeichen, was seine Fähigkeit und seinen Willen zur digitalen Transformation betrifft.
Mittelstand – Rückgrat der deutschen Wirtschaft
Der Fokus Deutschlands auf seinen Mittelstand und die damit einhergehenden Warnungen zur konsequenteren, schnelleren Digitalisierung haben durchaus ihre Berechtigung. Wie keine andere ist die deutsche Wirtschaft geprägt von ihrem starken Mittelstand, der uns mit seinen Qualitätsprodukten „Made in Germany“ zum Exportweltmeister machte. So ist es nur verständlich, dass der Blick auf diesem Rückgrat der deutschen Wirtschaft ruht, wenn es um die Umsetzung der vierten industriellen Revolution geht. Zu entscheidend ist der Erfolg des Mittelstands in der digitalen Transformation für unsere gesamte Wirtschaft. Berechtigt sind die Warnungen einer schnellen Digitalisierung des Mittelstands aber nicht nur wegen seiner enormen Bedeutung für die Gesamtwirtschaft, sondern auch angesichts des Vorsprungs, den sich andere bereits erarbeitet haben. airbnb, Amazon und Uber verdrängen die Konkurrenz aus ihrem klassischen Gewerbe, und das nur mit ihren digitalen Plattformen. Sie alle haben gemeinsam, dass sie kostengünstiger, ressourcenschonender und für Kunden zugänglicher sind. Sie zeigen, dass die Wertschöpfung zukünftig nicht mehr hauptsächlich am Produkt hängt, sondern zu den Plattformen wandern und dazugehörigen Services. Hier muss der deutsche Mittelstand aufpassen, dass er mit seinen qualitativ hochwertigen Produkten nicht zur reinen Werkbank neuer Plattformen aus Übersee verkommt, die diese Produkte dann mit den entsprechenden Smart Services anreichern und die Kundenbeziehung übernehmen. So kooperieren nun beispielsweise im Automobilbereich – der Vorzeigebranche deutscher Qualität – deutsche Autohersteller mit Google. Wenn hier nicht mit Vorsicht agiert wird, kann es passieren, dass als Produkt letzten Endes ein „Google Car“ herauskommt, bei dem der Hersteller selbst zum Lieferanten reduziert und in der Wahrnehmung und der Wertschöpfung Google vorne stehen würde.
Digitalisierung läuft in 2 Schritten ab – Erst die Optimierung, dann die Transformation
Doch anstatt sich von diesem Szenario einschüchtern zu lassen, sollte die deutsche Wirtschaft und vor allem der deutsche Mittelstand die Herausforderung annehmen und die Digitalisierung als das erkennen was sie ist: eine große Chance, die nur darauf wartet ergriffen zu werden.
Konkret bedeutet das für den Mittelstand, konsequent Softwarelösungen zu etablieren, datengetriebene Geschäftsmodelle voranzutreiben und die Plattformwirtschaft mit ihren Chancen zu erkennen. Für eine erfolgreiche Umsetzung sind hier digitale Kompetenzen essentiell. Denn die Digitalisierung besteht aus 2 Schritten, der digitalen Optimierung und der digitalen Transformation. Der erste Schritt, die digitale Optimierung ist das, was wir Deutsche können, eine Optimierung und Effizienzsteigerung von Bestandsprozessen. Diese Kompetenzen waren für Digitales eher in der IT-Abteilung eines Unternehmens verortet. Geht es aber um den zweiten Schritt, die digitale Transformation, also das Erfinden neuer, meist datengetriebener Geschäftsmodelle, sind andere Kompetenzen gefragt. Um Potenziale, Synergien und digitale Geschäftsmodelle für das eigene Unternehmen zu erkennen, müssen sich Mitarbeiter in strategischen Positionen und im Management digital weiterbilden. Vor allem in technikfernen Branchen gibt es eine große Wissenslücke, die entweder durch Weiterbildung oder Heranziehen von externen Experten geschlossen werden muss.
Denn für die digitale Transformation ist es entscheidend, dass die Technologien nicht nur eingesetzt werden, um bestehende Prozesse eins zu eins zu ersetzen wie bei der reinen digitalen Optimierung – indem beispielsweise Rechnungen nun digital abgelegt oder Daten in der Cloud statt auf dem Computer gespeichert werden. Digitale Transformation bedeutet vielmehr, dass bisher unmögliche Geschäftsmodelle und neue Arbeitsprozesse entwickelt werden, die das Potenzial der Technologien voll ausnutzen und etwas Neues schaffen. Beispiele dafür sind die genannten neuen Geschäftsmodelle zur Vermittlung von Autos, Taxen und Wohnungen. Der gesamte Prozess von der Auswahl der Unterkunft, über die Buchung und Zahlung läuft dabei über die Online Plattform. Als Weltmarktführer in diesem Bereich vermittelt airbnb jährlich mehr als 10 Millionen Übernachtungen in 190 Ländern. Mit 25 Milliarden Dollar Marktbewertung ist die wenige Jahre alte Vermittlungsplattform mehr wert als die weltweiten Hotelketten Marriott oder Hyatt. Die hohen Registrierungszahlen dieser und weiterer Plattformen sprechen für sich. Mit ihren neuen Geschäftsmodellen stellen diese Firmen eine Bedrohung für die klassischen Branchen wie das Taxi- oder Hotelgewerbe dar. Übernachtungen werden plötzlich woanders gebucht als in den klassischen Hotels, zudem sinken deren Preise und Nachfrage aufgrund des neuen und oftmals günstigeren Angebots.
Daten als Rohstoff
Für den Mittelstand ist es nun wichtig zu überlegen, wie das eigene Geschäftsmodell mit den neuen digitalen Möglichkeiten weiterentwickelt und letztlich transformiert werden kann, sodass sie nicht in ihrer eigenen Branche von digitalen Aufsteigern überholt werden. Im Zentrum dieser Überlegung stehen für viele Branchen Daten. Mit Hilfe von Big Data und entsprechender Analyse lassen sich einerseits die eigenen Prozesse optimieren und Ressourcen einsparen. Andererseits können Daten genutzt werden, um den Kunden einen zusätzlichen Service bereitzustellen. Hier bieten sich im Bereich der Geschäftskunden wie auch der Endkunden viele Möglichkeiten: So kann zum Beispiel durch eine Echtzeitauswertung von Maschinendaten und den Vergleich der Daten mit denen anderer Kunden der Ausfall von Maschinen und der Wartungszustand besser vorhergesagt werden. Für Endkunden kann das Such- und Kaufverhalten anderer Nutzer zu Vorschlägen für weitere interessante Artikel genutzt werden, so wie Amazon und weitere Verkaufsplattformen es schon tun. Zalando geht beispielsweise noch einen Schritt weiter und bietet mit Zalon eine eigene Stylingberatung an, die auf Basis anonymisierter Kundendaten sowie der eigenen Nutzungsdaten direkt ganze Outfits zusammenstellt und dem Kunden zuschickt, ohne dass er die Produkte selbst je vorher gesehen oder bestellt hat – mit verblüffend positivem Kundenfeedback. So bieten die Technologien der Digitalisierung für jede Branche die Möglichkeit, Produkte zu erweitern, neu zu entwickeln und den Kunden aktiver einzubeziehen.
Es ist verständlich, dass vielen Unternehmern, vor allem aus technikfernen Branchen, dieser grundlegende digitale Wandel auf den ersten Blick unerreichbar scheint und sie sich überfordert fühlen. Die Technologien der Digitalisierung erfordern viele Kompetenzen, die bisher in den Unternehmen noch nicht vorhanden sind. Angesichts alarmierender Einschätzung beispielsweise von Seiten der EU allein schon zu Internet-Kenntnissen, ist das Erlangen so genannter „eSkills“ eine zentrale Herausforderung. So sind die große Mehrheit der über 20 Millionen kleinen und mittelständischen Unternehmer in Europa keine Digital Natives und nutzen deshalb das Potenzial neuer Technologien zu wenig.
IT-Mittelstand als Enabler der Digitalisierung
Hier kann der IT-Mittelstand eine wichtige Rolle als Enabler, als Schrittmacher der Digitalisierung spielen. Denn zwischen dem anwendenden Mittelstand und dem anbietenden IT-Mittelstand besteht bereits eine Beziehung auf Augenhöhe: Das gemeinsame mittelständische Selbstverständnis der mittelständischen Kunden-Lieferanten-Beziehung stellt Machbarkeit und Pragmatismus in den Vordergrund. Diese Grundeinstellung entspringt einer gleichen Erfahrungswelt, die von kleinen Teams statt vielen Abteilungen und von dem Anspruch nach funktionierenden Lösungen statt allgemeingültigen IT-Systemen geprägt ist. Der IT-Mittelstand teilt die Probleme des anwendenden Mittelstands und versteht so beispielsweise, wie schwer es in Konkurrenz zu großen Konzernen ist, die benötigten Fachkräfte zu finden. Der IT-Mittelstand kann als Multiplikator dem anwendenden Mittelstand die nötigen digitalen Fähigkeiten vermitteln und ihn somit zur Digitalisierung befähigen.
Wenn der Mittelstand sich selbst hilft und den digitalen Wandel nun tatkräftig in Angriff nimmt, wird so der wichtige Impuls in die Gesamtwirtschaft abgegeben, dass der deutsche Mittelstand auch in Zukunft Innovationstreiber Nummer eins bleiben wird. Das Silicon Valley ist zwar ein Erfolgsmodell für sich – eine Kopie kann allerdings kein Erfolgsmodell für Deutschland werden. Ein gut vernetzter, digitalisierter Mittelstand muss unsere Antwort auf die digitalen Herausforderungen unserer Zeit sein.
Dr. Oliver Grün, 48, ist Präsident des Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) und CEO des mittelständischen IT-Unternehmens GRÜN Software AG.
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